Nicole: "In meinem schwarzem Outfit fühle ich mich nicht mehr als Opfer."
Zur Gothic-Szene kam Nicole in erster Linie über die
Mode. Im Alter von etwa 18 Jahren hat sie sich bereits
für „freakige Sachen“ interessiert, erzählt sie. Zufällig
entdeckte sie einen Second-Hand-Laden, in dem sie
viele original Kleider aus den 50er und 60er Jahren
kaufte. Ihre Vorliebe für Schwarz kam etwas später, als
sie zunächst schwarze Strümpfe für sich entdeckte.
Zusammen mit einer alten, aus der Familie geerbten
schwarzen Bluse mit Spitzenkragen und einer
glänzenden lila Hose war ihr erstes Gothic-Outfit
perfekt.
Auch weiterhin war Nicole Fan von Second-Hand-
Klamotten, aber sie färbte schließlich alles schwarz ein,
weil das, wie sie merkte, am besten zu ihr passte und
sie sich darin am wohlsten fühlte. Von da an lief sie
privat am liebsten in schwarz herum. Das war ihr
Ausgleich zum Bürojob als Assistentin, in dem sie stets
freundlich zu sein hatte und sich so kleiden musste,
wie die Chefin das wollte. Für Nicole waren ihre
schwarzen Outfits die Möglichkeit, ihr wahres Ich zu
zeigen – im Gegensatz zur angepassten Kleidung im
Job. Später lebte sie das auch bei verschiedenen
Rollenspielen, zum Teil auf Friedhöfen aus, in denen sie
aufwendige Outfitsmit unterschiedlichen Perücken
trug.
Eine dunkle Seite ist auch in ihr vorhanden, erzählt
Nicole. 1984 hatte sie ein furchtbares Erlebnis, das ihr
normales Leben für etwa zehn Jahre unterbrach. “Ich
habe etwas überlebt, von dem mir hinterher die Ärzte
gesagt haben, dass so etwas noch niemand jemals
unbeschadet überlebt hat”. Sie wurde von einem
Triebtäter hinterrücks überfallen und gewürgt. Sie
hatte die schreckliche Panik, er würde sie zu Tode
strangulieren. Glücklicherweise konnte sie sich wehren
und entkommen, aber sie war dadurch schwer an der
Kehle verletzt. Dieses Ereignis hat Nicole total
verändert.
Einige Jahre später geriet Nicole wieder in eine
grauenvolle Situation: Sie wurde auf der Straße
verprügelt - so schlimm, dass ihr ganzes Gesicht
schwarz war wegen der Blutergüsse. In ihrem
Unterbewusstsein war Nicole immer wieder das Opfer,
ohne dass sie erstmal etwas dagegen tun konnte. Das
wurde ihr allerdings erst später bewusst. Und so
schlitterte sie im Leben immer wieder in diese
Opferrolle. Ihr ging es so schlecht, dass sie ihren Job
eine Zeitlang gar nicht mehr ausüben konnte.
Mittlerweile hat Nicole gelernt, damit umzugehen und
sich zu wehren, sie hat zu sich selbst gefunden. Eine
große Rolle in ihrem Selbstbild spielen dabei ihre
schwarzen Outfits. Wenn sie sich so kleidet, wie sie das
selbst möchte und wie sie sich gut und selbstbewusst
fühlt, ist sie nicht mehr das Opfer. Dann kann sie
jemanden, der sie bedroht, in die Schranken weisen
und “Stop” sagen.
Die Metamorphose von ihren Alltags-Outfits zum
Gothic Look bedeutet für Nicole heute vor allem eines:
Freiheit und Selbstbestimmung. Sie fühlt sich nicht
mehr ständig unter Beobachtung wie im Büro, kann
sich zeigen und geben, wie sie wirklich ist. Nicole fühlt
sich in ihren schwarzen Outfits selbstbewusst, sie lässt
sich nicht mehr alles bieten und kann ihre Gefühle
ausdrücken. Endlich glaubt sie nicht mehr, allen
gefallen zu müssen.